Page 23 - FM_OL_2-2021_FlipBook
P. 23

FAMILIENMAGAZIN OLDENBURG  2 | 2021




         Liebe Birgit,                                      Leben so gar keinen Sinn macht, kann es hilfreich
                                                            sein zu schauen: Gibt es jemanden in meinem Fa-
         ich freue mich, dass Sie mir so ehrlich schreiben.   miliensystem – oft zwei Generationen vorher – für
         Sie haben das Gefühl, sich selber nicht wirklich zu   den dieses Gefühl Sinn gemacht hätte?
         kennen und zu verstehen. Das ist natürlich sehr    Viele Symptome unserer heutigen Zeit, mit der
         verunsichernd und macht Ihnen zu schaffen. Aber    Menschen vor allem aus der Kriegsenkelgenera-
         ich bin sicher: Mit Ihnen stimmt alles!            tion zum Therapeuten kommen, lassen sich bei
                                                            genauem Hinsehen als sogenannte vererbte oder
         In der letzten Ausgabe bin ich bei der Beantwor-   übernommene Gefühle identifizieren. Es ist für den
         tung des Leserbriefes sehr auf das Schicksal der   Verstand schwer vorstellbar, aber wir erben eben
         Kriegskinder eingegangen. Diese haben oft Trau-    nicht nur bestimmte körperliche Merkmale oder
         mata erlebt, die dazu geführt haben, dass eigene   Charaktereigenschaften von unseren Vorfahren,
         Gefühle und Bedürfnisse verdrängt und nicht mehr   sondern auch Gefühle, die diese als Traumafolge
         wahrgenommen wurden.                               nicht ausreichend verarbeitet haben. Mittlerweile
         Aber leider ist – was viele nicht wissen – auch die   erforscht und belegt auch die Neurowissenschaft
         nachfolgende Generation noch von den Kriegs-       diese epigenetischen Veränderungen im Erbgut.
         folgen betroffen. Diese Generation der Jahrgänge   Gerade die depressiven Symptome, die ja leider zu-
         von ca. 1955–1975 bezeichnen wir deshalb als die   nehmen, lassen sich oft mit dem Schicksal unserer
         sogenannten Kriegsenkel.                           Vorfahren in Verbindung bringen. Wenn wir Depres-
                                                            sion mit fehlender Lebensfreude übersetzen, dann
         Sie selbst sind offensichtlich mit durch den Krieg   lassen sich in jeder Familie Vorfahren finden, die
         traumatisierten Eltern aufgewachsen. Das hat sicher   durch die Kriegsereignisse allen Grund hatten, ihre
         dazu geführt, dass Ihre Eltern emotional nicht so   Lebensfreude zu verlieren.
         schwingungsfähig mit Ihnen umgegangen sind, wie    Auch ein auffallend ablehnendes und abwertendes
         Sie es als Kind gebraucht hätten. Ein Kind braucht   Verhalten Männern gegenüber, das wir häufig bei
         Eltern, die die kindlichen Gefühle wahrnehmen,     Frauen in der heutigen Zeit finden, die selber nie
         diese widerspiegeln und dann mit ihm aushalten,    schlechte Erfahrungen gemacht haben, kann einen
         damit das Kind lernt: Das, was ich fühle, ist okay und   transgenerationalen Ursprung haben. Hier findet
         mit mir ist alles in Ordnung. Wenn allerdings Kinder   sich beim Nachforschen im Familiensystem oft eine
         in ihrer Emotionalität eher ignoriert und abgelehnt   Großmutter, die im Krieg Gewalt durch Soldaten
         werden oder bestimmte Gefühlsausbrüche gar mit     erlebt hat.
         Liebesentzug bestraft werden, hat das Kind keine   Oder ein außergewöhnlich starkes Heimweh bei
         Möglichkeit, seinen eigenen Gefühlen zu vertrau-   Kindern während einer Klassenfahrt. Hier finden
         en. Das führt oft dazu, dass diese Kinder auch als   sich oft Kriegskinder in der Familiengeschichte,
         Erwachsene sich ihrer eigenen Gefühle und Bedürf-  die während einer mehrmonatigen Kinderlandver-
         nisse nicht sicher sind. Sie fühlen etwas, stellen das   schickung natürlich unter existenziellem Heimweh
         aber gleichzeitig wieder infrage. Sie vertrauen nicht   gelitten haben.
         ihrer Intuition und das verunsichert. Somit entsteht
         oft dieses diffuse Lebensgefühl von Unsicherheit   Ich kann Ihnen nur Mut machen, erst einmal alle
         und „mit mir stimmt etwas nicht“.                  Ihre Gefühle ernst zu nehmen und ihnen zu ver-
                                                            trauen. Wenn Sie allerdings keinen plausiblen
         Wir wissen heute, dass es eine transgenerationale   Grund oder Auslöser dafür in Ihrem eigenen Leben
         Weitergabe von Kriegstraumata gibt. Das heißt,     finden, fragen Sie sich einmal: Für wen in meinem
         auch wenn Sie selbst den Krieg nicht erlebt haben,   Familiensystem hätte dieses Gefühl damals Sinn
         kann es gut sein, dass Sie gewisse Traumafolgen    gemacht?
         Ihrer Vorfahren in sich tragen, ohne dass Sie sich   Es ist gut und wichtig, die Gefühle, die nicht zu uns
         dessen bewusst sind. Möglich wäre beispielsweise,   gehören, zu erkennen und von unseren eigenen zu
         dass Sie einen Teil der Trauer und Schwere in sich   unterscheiden.
         tragen, die eigentlich zu Ihrer Großmutter gehören.
         Diese hat ja, wie Sie sagen, die Flucht erlebt und   Die Folgen dieser transgenerationalen Weiterga-
         dabei auch noch zwei Kinder verloren. Oft haben    be von Kriegsereignissen sind sehr vielschichtig
         diese Frauen ihren Schmerz verdrängen müssen,      und nicht leicht bei sich selber zu erkennen. Wenn
         damit sie weiterhin stark sein konnten für ihre    dieses Thema mit Ihnen in Resonanz geht und Sie
         Kinder. Dieser Schmerz bleibt aber im Familiensys-  sich intensiver damit auseinandersetzen möchten,
         tem gespeichert, und es kann sein, dass Sie ihn nun   kann ich Ihnen den Verein Kriegsenkel e. V. emp-
         stellvertretend fühlen. Ohne natürlich zu wissen,   fehlen. Unter www.kriegsenkel.de finden Sie viele
         wo er herkommt.                                    hilfreiche Buchempfehlungen und Hilfsangebote zu
                                                            diesem Thema.
         Wann immer wir etwas fühlen, was wir nicht
         einordnen können und was scheinbar in unserem      Sabine Tewes




                                                                                                                23
   18   19   20   21   22   23   24   25   26   27   28