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FAMILIENMAGAZIN OLDENBURG 2 | 2021
Liebe Birgit, Leben so gar keinen Sinn macht, kann es hilfreich
sein zu schauen: Gibt es jemanden in meinem Fa-
ich freue mich, dass Sie mir so ehrlich schreiben. miliensystem – oft zwei Generationen vorher – für
Sie haben das Gefühl, sich selber nicht wirklich zu den dieses Gefühl Sinn gemacht hätte?
kennen und zu verstehen. Das ist natürlich sehr Viele Symptome unserer heutigen Zeit, mit der
verunsichernd und macht Ihnen zu schaffen. Aber Menschen vor allem aus der Kriegsenkelgenera-
ich bin sicher: Mit Ihnen stimmt alles! tion zum Therapeuten kommen, lassen sich bei
genauem Hinsehen als sogenannte vererbte oder
In der letzten Ausgabe bin ich bei der Beantwor- übernommene Gefühle identifizieren. Es ist für den
tung des Leserbriefes sehr auf das Schicksal der Verstand schwer vorstellbar, aber wir erben eben
Kriegskinder eingegangen. Diese haben oft Trau- nicht nur bestimmte körperliche Merkmale oder
mata erlebt, die dazu geführt haben, dass eigene Charaktereigenschaften von unseren Vorfahren,
Gefühle und Bedürfnisse verdrängt und nicht mehr sondern auch Gefühle, die diese als Traumafolge
wahrgenommen wurden. nicht ausreichend verarbeitet haben. Mittlerweile
Aber leider ist – was viele nicht wissen – auch die erforscht und belegt auch die Neurowissenschaft
nachfolgende Generation noch von den Kriegs- diese epigenetischen Veränderungen im Erbgut.
folgen betroffen. Diese Generation der Jahrgänge Gerade die depressiven Symptome, die ja leider zu-
von ca. 1955–1975 bezeichnen wir deshalb als die nehmen, lassen sich oft mit dem Schicksal unserer
sogenannten Kriegsenkel. Vorfahren in Verbindung bringen. Wenn wir Depres-
sion mit fehlender Lebensfreude übersetzen, dann
Sie selbst sind offensichtlich mit durch den Krieg lassen sich in jeder Familie Vorfahren finden, die
traumatisierten Eltern aufgewachsen. Das hat sicher durch die Kriegsereignisse allen Grund hatten, ihre
dazu geführt, dass Ihre Eltern emotional nicht so Lebensfreude zu verlieren.
schwingungsfähig mit Ihnen umgegangen sind, wie Auch ein auffallend ablehnendes und abwertendes
Sie es als Kind gebraucht hätten. Ein Kind braucht Verhalten Männern gegenüber, das wir häufig bei
Eltern, die die kindlichen Gefühle wahrnehmen, Frauen in der heutigen Zeit finden, die selber nie
diese widerspiegeln und dann mit ihm aushalten, schlechte Erfahrungen gemacht haben, kann einen
damit das Kind lernt: Das, was ich fühle, ist okay und transgenerationalen Ursprung haben. Hier findet
mit mir ist alles in Ordnung. Wenn allerdings Kinder sich beim Nachforschen im Familiensystem oft eine
in ihrer Emotionalität eher ignoriert und abgelehnt Großmutter, die im Krieg Gewalt durch Soldaten
werden oder bestimmte Gefühlsausbrüche gar mit erlebt hat.
Liebesentzug bestraft werden, hat das Kind keine Oder ein außergewöhnlich starkes Heimweh bei
Möglichkeit, seinen eigenen Gefühlen zu vertrau- Kindern während einer Klassenfahrt. Hier finden
en. Das führt oft dazu, dass diese Kinder auch als sich oft Kriegskinder in der Familiengeschichte,
Erwachsene sich ihrer eigenen Gefühle und Bedürf- die während einer mehrmonatigen Kinderlandver-
nisse nicht sicher sind. Sie fühlen etwas, stellen das schickung natürlich unter existenziellem Heimweh
aber gleichzeitig wieder infrage. Sie vertrauen nicht gelitten haben.
ihrer Intuition und das verunsichert. Somit entsteht
oft dieses diffuse Lebensgefühl von Unsicherheit Ich kann Ihnen nur Mut machen, erst einmal alle
und „mit mir stimmt etwas nicht“. Ihre Gefühle ernst zu nehmen und ihnen zu ver-
trauen. Wenn Sie allerdings keinen plausiblen
Wir wissen heute, dass es eine transgenerationale Grund oder Auslöser dafür in Ihrem eigenen Leben
Weitergabe von Kriegstraumata gibt. Das heißt, finden, fragen Sie sich einmal: Für wen in meinem
auch wenn Sie selbst den Krieg nicht erlebt haben, Familiensystem hätte dieses Gefühl damals Sinn
kann es gut sein, dass Sie gewisse Traumafolgen gemacht?
Ihrer Vorfahren in sich tragen, ohne dass Sie sich Es ist gut und wichtig, die Gefühle, die nicht zu uns
dessen bewusst sind. Möglich wäre beispielsweise, gehören, zu erkennen und von unseren eigenen zu
dass Sie einen Teil der Trauer und Schwere in sich unterscheiden.
tragen, die eigentlich zu Ihrer Großmutter gehören.
Diese hat ja, wie Sie sagen, die Flucht erlebt und Die Folgen dieser transgenerationalen Weiterga-
dabei auch noch zwei Kinder verloren. Oft haben be von Kriegsereignissen sind sehr vielschichtig
diese Frauen ihren Schmerz verdrängen müssen, und nicht leicht bei sich selber zu erkennen. Wenn
damit sie weiterhin stark sein konnten für ihre dieses Thema mit Ihnen in Resonanz geht und Sie
Kinder. Dieser Schmerz bleibt aber im Familiensys- sich intensiver damit auseinandersetzen möchten,
tem gespeichert, und es kann sein, dass Sie ihn nun kann ich Ihnen den Verein Kriegsenkel e. V. emp-
stellvertretend fühlen. Ohne natürlich zu wissen, fehlen. Unter www.kriegsenkel.de finden Sie viele
wo er herkommt. hilfreiche Buchempfehlungen und Hilfsangebote zu
diesem Thema.
Wann immer wir etwas fühlen, was wir nicht
einordnen können und was scheinbar in unserem Sabine Tewes
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